"Das Gesetz muss noch in seiner Lebenspraxis geprüft werden"

Selten wurde ein Gesetz so kritisch diskutiert wie das Bundesteilhabegesetz. Zahlreiche Stellungnahmen von Verbänden und Interessensgruppen wurden im Bundestag eingereicht. Der Gemeindepsychiatrische Verbund Memmingen-Unterallgäu (GPV) lud jetzt Stephan Stracke, Mitglied im Ausschuss Arbeit und Soziales im Bundestag, zum gemeinsamen Gespräch mit direkt Betroffenen in die Offenen Hilfen von Regens Wagner nach Memmingen ein.

„Das geplante Gesetz bringt vor allem Unsicherheiten für Menschen mit Behinderung und Leistungserbringer mit sich", betonte Christian Konrad, Gesamtleiter von Regens Wagner Lautrach und Vorstandsmitglied im GPV. Nach den vorliegenden Gesetzesentwürfen zum Bundesteilhabegesetz und Pflegestärkungsgesetz sollen unter anderem die Leistungen der Pflege gegenüber den Leistungen der Eingliederungshilfe Vorrang erhalten. Auch eine Auflösung der bisherigen Trennung von ambulanten und stationären Wohnformen ist geplant.

„Menschen mit Behinderung brauchen eine Beziehungskontinuität. Eine gleichbleibende Bezugsbetreuung ist vor allem für die psychische und emotionale Stabilität und die Entwicklung der Menschen wichtig, " so Konrad. Manuel W. und Frederike Q. von der Regens Wagner Gruppe „STARK", ein Selbstvertretungskreis von und für Menschen mit Behinderung, machten deutlich, wie wichtig für sie ein Leben in der Gruppe mit Bezugsbetreuung sei. In einer stationären Wohnform können Stimmungsschwankungen und Krisen besser aufgefangen und betroffene Menschen über die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wie auch am Arbeitsleben stabilisiert werden. „Individualität spielt bei psychischen Erkrankungen eine große Rolle", ergänzte Konrad.

Dass insbesondere Menschen mit seelischen Erkrankungen ihren Leistungsanspruch mit dem neuen Gesetz verlieren könnten, verdeutlichte Roland Schaller der Diakonie Memmingen. „Um Leistungen der Eingliederungshilfe zu erhalten, müsste ein Mensch in fünf aus neun Lebensbereichen nach ICF Unterstützung benötigen. Der Umgang mit psychischen Belastungen wird im neuen Behinderungsbegriff nicht berücksichtigt – einzelne Menschen werden damit an den Rand der Gesellschaft gedrängt." Eindrucksvoll schilderte Wilfried D. seine Betroffenheit vom geplanten Gesetz. Nach einer Krebserkrankung und seelischen Beeinträchtigung ist der 55-jährige auf Leistungen des Ambulant Begleiteten Wohnens angewiesen. „An manchen Tagen schaffe ich es nicht, einkaufen zu gehen, zu kochen oder meine Wohnung sauber zu halten ... da brauche ich Unterstützung."

„Wir wollen kein Gesetz, das Menschen in ihrer Lebenssituation benachteiligt. Insbesondere soll das Bundesteilhabegesetz für die Betroffenen Leistungen der Pflege und Eingliederungshilfe wie aus einer Hand ermöglichen. Die Angemessenheit und Zumutbarkeit der Leistungen, das Wunsch- und Wahlrecht aber auch die Wirtschaftlichkeit sollen dabei berücksichtigt werden." Stephan Stracke betonte in seiner Stellungnahme, dass es vonseiten der CSU Vorbehalte gegenüber dem geplanten Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe gebe. „Das Gesetz muss noch in seiner Lebenspraxis geprüft werden." Menschen mit seelischen Erkrankungen sollen laut Stracke mit dem Bundesteilhabegesetz nicht benachteiligt werden. Wer als Finanzierer der Leistung auftritt, solle zukünftig „am runden Tisch" verhandelt werden, ohne dass der Betroffene dadurch Nachteile erfahre.

Ob das Bundesteilhabegesetz die Bedingungen für Menschen mit seelischer Behinderung auch im Arbeitsleben verbessert und wie die Leistungserbringer der größer werdenden Bürokratie und Kostendämpfung in Zukunft gerecht werden können, waren Themen der abschließenden Diskussion. Raimund Steber, Vorstandsvorsitzender des GPV Memmingen-Unterallgäu, übergab Stephan Stracke einen offenen Brief des GPV mit weiteren Gedanken zum Bundesteilhabegesetz.